1. Teil: Landessuperintendentin Dr. Birgit Klostermeier zu Römer 3, 21-28
Liebe Gemeinde, nun stehen wir, lieber Bruder Bode, an diesem Reformationsfest 2017 hier gemeinsam in der St. Marienkirche nach einem bewegten Jahr. Ihren Kalender habe ich gesehen, angefüllt mit Reformationsfestterminen. Und auch ich denke gern an die vielen besonderen Begegnungen wie das gemeinsame Märtyrergedenken, an die Einsegnung der katholischen Religionslehrerinnen und -lehrer, an unser mit dem reformierten Bruder Martin Heimbucher geführtes Gespräch erst vor kurzem über Maria und Petrus. Unsere Kalender sind ja nur ein kleiner Spiegel dessen, was in den Gemeinden und Kirchenkreisen an Gemeinsamen in diesem Jahr war. Fünfhundert Jahre nach dem Datum, das wir mit Luthers Thesenanschlag verbinden mit all seinen Auswirkungen und geschichtlichen Prägungen und unserer getrennt-gemeinsamen, auch düsteren und abgründigen Geschichte von Spaltung, Kriegen und Konfessionalismus. Nun feiern wir gemeinsam Gottesdienst. Wir sprechen zu zweit eine Predigt, nein, genauer machen wir das zu viert. Denn diese beiden Texte der Bibel, die wir eben gehört haben, sprechen mit. Als erstes der aus dem Römerbrief. Es ist der Text der Reformation. Luthers, wie er selbst sagte, „allerliebstes Wort“. In jedem unserer Reformationsgottesdienste wird dieser Text gelesen. Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. (Röm 3,21f.28) Diese Zeilen des Apostels Paulus kann man lesen und noch einmal lesen. Und womöglich passiert gar nichts. Man muss sie ja erst mal verstehen. Mit dem Kopf: Gesetz, Gnade, Gerechtigkeit... Und dann mit dem Herzen verstehen, nämlich: Ich bin gemeint. Es geht um mich. Wie erging es Luther mit diesen Versen? „Tag und Nacht dachte ich unablässig darüber nach, bis Gott sich meiner erbarmte. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben. Da fühlte ich, dass ich geradezu neugeboren und durch die geöffneten Pforten in das Paradies selbst eingetreten war. Und mit welchem Hass ich vorher das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' hasste, mit solcher Liebe schätzte ich es nun als allerliebstes Wort. So wurde mir jene Stelle bei Paulus wahrhaft Pforte des Paradieses.“ (Vorrede zu der Gesamtausgabe der lateinischen Schriften, 1545) Als würde ihm eine Last von der Seele genommen. Eine Pforte geöffnet. Hindurchgehen. In das Paradies eintreten. Was für ein Erlebnis! Gott selbst, davon ist Luther überzeugt, spricht zu ihm. Spricht Gott auch zu uns? Oder sind es Worte wie von ferne? Manch einer sagt, in unserer Gesellschaft sei Rechtfertigung kein Thema. Der strafende Gott Martin Luthers sei uns unbekannt. Ein Problem mit dem göttlichen Gesetz? Nein, haben wir nicht mehr. Natürlich haben 500 Jahre Reformation auch Gottes- und Menschenbilder verändert. Auch die Aufklärung hat zu einem anderen Verständnis beigetragen. Mag sein, dass wir in einer Welt leben, die Gott nicht mehr fürchtet, ihn vergessen oder für unnötig erklärt hat. Womöglich leben wir in einer Welt, die Gott im Alltagsvollzug durch den Menschen ersetzt hat. Gerade läuft der Film nach dem Bestseller „Circle“ an. Er erzählt von einer nahen Zukunft, in der ein Konzern die Dienstleistungen von Facebook, Google und Apple aus einer Hand anbietet und hierdurch eine große Menge an Informationen über die Kunden erhält. Dabei untergräbt das Unternehmen die Privatsphäre der Bevölkerung und kann hierdurch nahezu alle zwischenmenschlichen Handlungen und Beziehungen kontrollieren. Fiktion oder nahe Zukunft? Auch wenn unsere Gesellschaft sich aufgeklärt gibt, sind wir noch lange nicht fertig mit dem Wesentlichen: Wo kann ich ohne Angst sein? Wem vertraue ich? Wer hat Macht über mich? Wer macht sich zu meinem Gott? Wo mache ich mich selbst zu einem Gott über andere? Die Rechtfertigung vor- und miteinander, die ist noch nicht erledigt. Und wir als Kirche? Befreit, von dem Zwang einer Gerechtigkeit durch Werke? Eine Leserin schrieb in einem Brief in der Süddeutschen Zeitung – vorausgegangen war eine Debatte, wie viel Ökumene die Kirchen vertragen-, ob die Kirchen neben „ihrem Luther“ und „ihrem Papst“ nicht das Wesentliche vergessen hätten, nämlich Christus. Ich liebe meine evangelische Kirche, ihre Tradition, ihre Frömmigkeit, ihre Vielfalt und Vielgestaltigkeit, ihre Eigenwilligkeiten, ihre Kompliziertheiten und kleinen und großen Freiheiten. Ich schätze das Selbstbewusstsein vieler Kirchenvorstände und die Eigensinnigkeit und Kreativität so mancher Pastoren und Pastorinnen. Nur manchmal scheint es mir so zu sein, als gefielen wir uns darin, uns genau dieser Unabhängigkeit der Einzelnen zu rühmen. Wir sind gut so und so soll es bleiben.- Ich frage mich, ob wir unsere Strukturen nicht manchmal für heilige Gesetze erklären. Eine Gerechtigkeit, die aus den Werken des Gesetzes kommt? Dabei: Aus protestantischer, aus evangelischer Sicht ist die Kirche wie ein Vehikel. Sie transportiert Gottes Wort. Sie feiert seine Gegenwart in Brot und Wein. Aber das Vehikel, ihre Gestalt ist doch immer nur als eine vorübergehende zu denken. Sie ist immer in Veränderung begriffen, eben weil sie ja auf Gott vertraut und nicht auf sich selbst. Sie kann und muss auf ihre Herkunft und ihre Tradition und Bekenntnisse achten, aber doch nur so, indem sie sie neu in die Zeit hinein entwirft und gestaltet. „Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen.“ Allein der Glaube. Allein das. – Ja, das Herz hinüber werfen. Vertrauen. Christus vertrauen. Gott vertrauen. Es machen, wie Christus es macht und die Menschen lieben. Sehen, was nötig ist. Tun, was dran ist. Sich offen halten. Selbst wie eine geöffnete Tür werden. Deshalb braucht die Kirche den Protest. Sie muss ihn in sich tragen. Wenn wir 500 Jahre feiern – und ich sage bewusst feiern - dann doch nicht, weil wir uns unserer selbst rühmen wollen, sondern weil mit der Reformation ein Prinzip sicht- und deutlich wurde, was konstitutiv zur Kirche gehört. Reformation bleibt die Aufforderung, dass wir uns unruhig halten, um uns selbst offen zu halten. Wie eine Tür offen zu halten. Deshalb ist Reformation nicht der 31. Oktober. Reformation ist eine Haltung. Getragen von der Tiefe unseres Dasein. Getragen und ermöglicht von diesem Versprechen und der Verheißung, von Gott geliebt, Liebende zu werden. Geachtet, Andere achten zu können. Von Gott gesehen, Andere sehen zu können. Getragen von dem Vertrauen, ein Gegenüber in dieser Welt zu haben, und deshalb Anderen ein Gegenüber zu werden. Karl Barth hat in seiner berühmten Auslegung des Römerbriefes aus dem Jahr 1922 geschrieben, dass Gott sich selbst vor sich rechtfertigt, indem er dem Menschen treu bleibt und „nicht aufhört, sich seiner anzunehmen.“ (Römerbrief, S.67) Gott hört nicht auf. Deshalb können wir beginnen.