Liebe Osnabrückerinnen und Osnabrücker,
vor uns liegt das nunmehr dritte Jahr der Corona-Pandemie, von der viele von uns im vergangenen Sommer glaubten, sie sei überwunden. Mittlerweile sind die Pandemie und die mit ihr verbundenen Verhaltensregeln Teil unseres Alltags geworden: Wir haben verinnerlicht, nicht ohne Maske aus dem Haus zu gehen, Bekannte mit der geballten Faust statt mit einem Handschlag zu begrüßen und möglichst Abstand voneinander zu halten. Doch neben diesen harmlosen Vorsichtsmaßnahmen wächst das Gefühl einer zunehmenden Spaltung und Radikalisierung eines Teils unserer Gesellschaft, der sich gegen Impfungen und die vermeintlichen oder tatsächlichen Einschränkungen von Grundrechten auflehnt. Ich frage mich: Wie können wir untereinander wieder ins Gespräch kommen und einen Grundkonsens im Umgang miteinander zurückgewinnen? Welche vermittelnde Rolle kann unsere Kirche dabei spielen?
Einerseits brauchen wir Geduld und Toleranz, einander zuzuhören. Und ob auf Demonstrationen, im Zwiegespräch oder bei Markus Lanz: Wir müssen uns ausreden lassen und offen für Meinungen anderer sein. Gerade unsere Kirche muss dafür stehen, den Blick zu wechseln und sich anzuhören, was Menschen davon abhält, sich impfen zu lassen. Oft sind es Befürchtungen hinsichtlich langwieriger Nachwirkungen oder kulturelle Normen, die sie von der Spritze abhalten. Hier kann es helfen, Ängste zu überwinden, indem man sein Gegenüber ernst nimmt und ihm oder ihr zuhört und Argumente austauscht. Denjenigen, die sich schwertun, ihre Informationsquellen im Internet richtig einzuschätzen und Wahrheit und Lüge auseinander zu halten, könnte eine gezielte Bildungsoffensive mehr Sicherheit bei der Meinungsfindung vermitteln.
Andererseits muss es eine klare Trennlinie geben – Hassbotschaften darf kein Raum gegeben und die Toleranz des Rechtsstaates nicht missbraucht werden. Das fängt schon damit an, dass wir unsere Sprache überprüfen müssen: Der dem Vokabular der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung entliehene, verharmlosende Begriff der „Spaziergänge“ muss entlarvt und beim Namen genannt werden, denn tatsächlich handelt es sich dabei um Aufmärsche rechtsradikaler Coronaleugner, die Staat und Behörden einschüchtern und die Hoheit über die Straße gewinnen wollen. Hier enden Solidarität und Toleranz: So sehr sich unsere Kirche für ein Miteinander im Dialog einsetzt, so entschlossen muss sie an der Seite der Demokratie stehen und den Rechtsstaat schützen. Dazu gehört auch, digitale Brandbeschleuniger wie den Messengerdienst Telegram, über den Verschwörungstheoretiker Hassbotschaften posten und offen zu Straftaten aufrufen, trotz seines Sitzes in Dubai zu regulieren oder zu sanktionieren.
Gleichzeitig relativiert ein Blick über unseren nationalen Tellerrand das Leiden unserer Gesellschaft unter den Folgen der Pandemie. Während in Europa mehr als 70 Prozent aller Bürger*innen vollständig geimpft sind, liegt die Zahl der Geimpften in Afrika nach wie vor bei unter 10 Prozent. Viele Länder im globalen Süden können sich die teuren Impfstoffe nicht leisten oder stehen trotz der wiederholten Initiativen der Weltgesundheitsorganisation WHO bei den Verhandlungen an hinterster Stelle. Unsere Kirche setzt sich ein für internationale Solidarität und fordert Impfgerechtigkeit bei der Bekämpfung der Pandemie, indem Patentrechte ausgesetzt und Forschungsergebnisse als öffentliches Gemeingut der ganzen Menschheit zugänglich gemacht werden.
Auch der Umgang mit den Millionen Flüchtlingen fordert uns als Kirche heraus. Natürlich stehen wir ungeachtet mancher Kritik an unserer Seenotrettung auf der Seite der Flüchtlinge, egal ob sie sich auf das Mittelmeer wagen oder an anderen Außengrenzen der Europäischen Union wie Belarus oder Bosnien entgegen den Bestimmungen des Europäischen Migrations- und Asylpaketes abgewiesen werden. Daneben gilt es aber auch darauf zu drängen, dass der vielzitierte Begriff der „Bekämpfung von Fluchtursachen“ politisch endlich ernst genommen wird. Das hätte sehr viel mit uns und unserer Lebensweise zu tun, denn nicht nur die Herkunftsländer der Flüchtlinge, sondern vor allem die reichen Länder wären gefordert. Die Hauptursachen für Flucht sind die Folgen des Klimawandels sowie Krieg und gewaltsame Konflikte. Es ist an der Zeit, dass wir unseren Lebensstil in Frage stellen, dessen Auswirkungen im Moment gerade die Menschen in Kenia, Äthiopien und Somalia in Gestalt einer monatelangen Dürre und damit verbundenen Hungersnot zu spüren bekommen. Und es ist überfällig, dass – wie laut Koalitionsvertrag der neuen Regierung beabsichtigt – schnellstmöglich ein Rüstungsexportkontrollgesetz verabschiedet wird, das ein Verbot von Waffenexporten ins Kriegsgebiet wie beispielsweise den Jemen vorsieht – eine Forderung, die die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) seit langem erhebt und bei der Vorstellung ihres 25. Rüstungsexportberichtes vor 14 Tagen in Berlin begrüßt hat.
Es sind große Herausforderungen, vor denen wir stehen. Es geht darum, unser Gemeinwesen national wie auch international zu schützen, zu erhalten und zu stärken. Unsere Kirche kann dazu an entscheidenden Stellen einen Beitrag leisten. Wir müssen Brücken bauen, bedingungslos für ein friedliches Zusammenleben einstehen und Überzeugungsarbeit leisten – auch dann, wenn sie unbequem ist und uns selbst fordert. Vertrauen wir dabei auf die Überzeugungskraft unseres christlichen Glaubens in Verbindung mit unserem Handeln!
Ich wünsche Ihnen ein friedliches und glückliches neues Jahr.
Herzlichst Ihr
Dr. Joachim Jeska, Superintendent